Cover
Titel
Die Kahans aus Baku. Eine Familienbiographie


Autor(en)
Dohrn, Verena
Erschienen
Göttingen 2018: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
519 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Rohdewald, Historisches Seminar, Universität Leipzig

Die Historikerin und Slavistin Verena Dohrn legt einen sehr eindrücklichen, gleichermaßen umfangreich wie konkret beschriebenen Einblick in mehrere Generationen überspannende familiäre Netzwerke der Kahans vor, der weiträumige soziale und wirtschaftliche Strukturen hervortreten lässt. Die Zentren der Erzählung befinden sich in Russland bis 1917 von Baku bis Petersburg, Riga und Warschau sowie in Deutschland – hier beginnt das Buch und hat in seiner Mitte erneut einen Schwerpunkt im Berlin der 1930er-Jahre – sowie gleichfalls bereits seit der Zwischenkriegszeit und nach dem Zweiten Weltkrieg noch verstärkt in Tel Aviv und neu dazu kommend auch in New York. Das Buch ist für einen breiten, über das Fachpublikum weit hinaus gehenden Kreis angelegt, für den eine zu komplexe theoretische Perspektivierung sich nicht empfohlen hat. Eine analytische Einordnung des Buchs als dichte Beschreibung einer globalen Migrations- und Verflechtungsgeschichte fällt jedoch leicht und war sicherlich implizit in seiner Anlage und Ausführung ausschlaggebend. Unter einem solchen Blickwinkel werden enge transimperiale und transnationale Verbindungen zwar kleiner, aber jeweils in vielfältiger Hinsicht zentraler Bevölkerungsteile im globalen Kontext am Beispiel weniger Familien aufgezeigt. Die auch aufgrund von Selbstzeugnissen erfolgte und nachvollziehbare Einschätzung der Rolle der Akteure in den Netzwerken als "Außenseiter" etwa im Europa der Zwischenkriegszeit (Kapitel 18) muss nicht im Widerspruch zur gleichzeitigen intensiven globalen Vernetzung stehen, sondern tritt als andere Seite der Medaille neben der gestaltenden Teilhabe jüdischer Unternehmerfamilien an übergreifenden Kontexten hervor. Immerhin kann diese Beobachtung von Marginalität zumindest (oder nur) auf dieser Metaebene stark relativiert werden. Soziales Kapital der Familienmitglieder erwies sich immer wieder über alle religiösen, imperialen und dann nationalen Gräben hinweg als kompatibel, und sei es nur zur Vereinbarung ökonomischer Unternehmungen. Damit waren diese eben – wie auch Armenier wie Calouste Gulbenkian – im Kern (und nicht am Rande) an der Internationalisierung des Erdölmarkts beteiligt. Die familiären und zahlreichen unternehmerischen Verbindungen hatten sich im 19. Jh. auf der Grundlage älterer Netzwerke konsolidiert und im 20. Jh. im Ersten Weltkrieg sowie in Folge der Oktoberrevolution stark verändert; dem Zweiten Weltkrieg fielen sie sehr weitgehend, aber nicht vollständig zum Opfer, sondern sie transformierten sich in einer noch weiträumigeren Ausweitung erneut.

Die Kapitel sind mit sehr detaillierten Darstellungen familiärer Konstellationen und diachronen Retrospektiven sowie mitunter weitschweifenden Ausblicken und Exkursen angelegt. Auch nicht selten ausufernde synchrone räumliche Ausweitungen der Perspektiven ermöglichen den Einblick in komplexe und wesentliche Verknüpfungen, erschweren aber auch immer wieder den Überblick. Das Zeitalter der Extreme tritt mit einem Fokus des Buches auf der Zeit von 1880 bis zum Zweiten Weltkrieg aber dennoch umso radikaler deutlich hervor, als dem Wachstum der Netzwerke und Strukturen und ihrer Zerstörung gleich großer Raum zugestanden wird. Die Herkunft der meisten der Akteure aus dem Ansiedlungsrayon – den ehemals polnisch-litauischen Gebieten im westlichen Russländischen Reich, das heißt der heutigen Ukraine, Belarus’, Litauen und dem östlichen Polen –, das Wohnen in Warschau und Berlin, Schulbesuche in Frankfurt, Sommerfrischen in den Kurorten Mitteleuropas, auch Hessens, die Vernetzung von Familie und Unternehmen in Charkow und Baku, die Organisation unternehmerischer Innovation im Ölsektor, der die Versorgung der Weltwirtschaft vom Kaspischen Meer her ausrichtete – alles wird eindringlich persönlich nahegebracht und mit ausführlichen Erklärungen historisch eingebettet.

Auch bei Verzicht auf komplexere theoretische Perspektiven wird mit analytischer Schärfe ein Beitrag zur Forschung vorgelegt, der die alten Genres des Familienromans und des historischen Romans vereint sowie durch die Erzählerperspektive sachliche Qualitäten einer Dokumentation annimmt. Die Quellengrundlage – tausende Privat- und Geschäftsbriefe in fünf Sprachen aus zahlreichen Archiven sowie Publikationen aller Art – ist in übergreifenden Erklärungen im Anhang und in Fußnoten ausreichend belegt. Das Buch zeigt, dass die Gattung der monographischen fachhistorischen Untersuchung nicht der einzige oder sogar beste Weg sein muss, um eine breitere Leserschaft anzusprechen und den Gegenstand plastisch aufzubereiten. Andererseits bleibt ohne die aufgezeigte methodisch-theoretische Perspektive doch ein über den bloßen Nachweis der lokalen und globalen Vernetzung hinausreichender Erkenntnisgewinn außen vor.

Russlands Aufstieg zum zeitweise wichtigsten Erdölexporteur der Welt um 1900 wird transnational und überregional auf der Mikroebene der Netzwerke als familiäre Globalgeschichte erklärt und bis ins Detail veranschaulicht. Die Verschiebung der ökonomischen Gewichte innerhalb des Russländischen Reiches und in der sich immer deutlicher auf Öl ausrichtenden Weltwirtschaft ans Kaspische Meer und insbesondere Baku, das via Eisenbahnlinien, Pipelines (vom Kaspischen zum Schwarzen Meer) und Öltanker (über das Kaspische Meer und die Wolga auf dem innerrussischen Kanalsystem nach St. Petersburg und zur Ostsee) den Weltmarkt mithin gestaltete, wird hier unmittelbar nachvollziehbar. Mit dem Ersten Weltkrieg und der Auflösung der Russischen Reiches nach den Revolutionen im Bürgerkrieg rücken Berlin und Riga stärker in den Fokus: nur im Baltikum konnten Unternehmen der Familie gerettet und im neuen Kontext der Zwischenkriegszeit der Vernetzung mit Firmen in Kopenhagen, Amsterdam und London dienen.

Die Verlagerungen der Lebensschwerpunkte der Familie Kahan zwischen Russland, Deutschland und schließlich Israel und den Vereinigten Staaten lassen eine in relationalen sozialen Räumen hergestellte transnationale Geschichte des östlichen Europa im nahöstlichen und globalen Kontext als selbstverständlich wirkmächtig und zentral, niemals peripher oder exzeptionell hervortreten. Überregionale Mobilitätsdynamiken, die in gerade diesem räumlichen Fokus zwischen dem Russländischen, dem Osmanischen und dem Persischen Reich etwa im durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) eingerichteten Schwerpunktprogramm Transottomanica nachgezeichnet werden1, werden gerade mit dem gewählten Thema in Ihrer Bedeutung für weitreichende gesellschaftliche und wirtschaftliche Auswirkungen in einer eng vernetzten Welt sehr deutlich.

Den Genres des Romans wie der historischen Arbeit sind dokumentarische Details und Zeitsprünge nicht unbekannt, allerdings in dem hier vorliegenden Ausmaß ungewohnt und letztlich dem Verständnis und Lesefluss zu oft hinderlich. Dennoch ist der hier besprochene umfangreiche Versuch, die Gattungsgrenzen zu durchbrechen und neue Wege zu gehen, sehr zu begrüßen und unbedingt eine Bereicherung im Umgang mit der globalisierten Geschichte des östlichen Europa.

Anmerkung:
1https://www.transottomanica.de/ (05.05.2021)